„Ich kann Philosophen nicht ausstehen. Durch den blöden Streit, wie viele Engel auf eine Nadelspitze gehen, ziehen uns Nadelspitzen magisch an. So ein Blödsinn.“

Felix zuckte zusammen und löste den Blick von der Spritze, die auf seinem Nachttisch lag. Er sah sich vorsichtig um. Außer ihm war niemand im Zimmer zu sehen. Er war alleine, seit die Schwester das Zimmer verlassen hatte. In so einem kahlen Krankenzimmer konnte sich doch auch niemand verstecken.

 Halluzinierte er jetzt? War das eine Auswirkung der Medikamente? Sollte er der Schwester klingeln?

„Vergiss es, du bildest dir nichts ein. Aber die Schwester kann mich weder sehen noch hören. Das kann keine in einem helfenden Beruf.“

„Was?“

„Na du hast dauernd auf die Nadel der Spritze gestarrt auf der ich sitze und da bekam ich Lust, mich mit dir zu unterhalten.“

„Was?“

„Du wiederholst dich. Vielleicht solltest du dir einen umfangreicheren Wortschatz zulegen. Mach die Augen zu, dann kannst du mich auch sehen.“

Felix hielt die Luft an und schloss gehorsam die Augen. Da saß doch tatsächlich ein kleiner Engel wie aus zarten Lichtlinien gezeichnet auf der Nadelspitze der Spritze. Die Beine keck übereinandergeschlagen, die Arme nach hinten abgestützt und grinste ihn an.

Engel grinsen nicht, die lächeln. Das konnte nur Einbildung sein.

Er öffnete die Augen wieder und die Spritze lag leer und unberührt vor ihm. Er schloss die Augen und der Engel grinste ihn an.

„Menschen können uns nur mit geschlossenen  Augen sehen, oder wenn sie in Gefahr sind.“

Felix presste die Lippen aufeinander und starrte auf seine Zehen. So leicht wollte er sich von einer Halluzination nicht unterkriegen lassen.

„Jetzt sag schon was, mir ist nach einem Plausch. ...Engelserscheinungen sind sogar von der Kirche gestattet, das gilt nicht als verrückt.“

„Heute glaubt doch sowieso keiner mehr an Engel. Also lass mich in Ruhe.“

„Damit du dir wieder Leid tun kannst? Oder willst du dir erneut überlegen wie es wäre dich umzubringen? Das ist doch ätzend.“

„Was gehen dich meine Gedanken an? Willst du mich auf den rechten Pfad führen oder so etwas?“

„Da sehe ich keine Erfolgsaussichten für mich. Durch die Phase musst du selber durch.“

„Na danke! Da liege ich in einem blöden Gipsbett, fühle mich hundeelend, ein Engel grinst mich an und hat nichts besseres zu sagen als ‚da musst du durch‘. Verpiss dich.“

„Schau mal deinem Blutdruck geht’s gleich viel besser, wenn du wütend wirst. Darin sehe ich jetzt schon einen gewissen Fortschritt. Wer auf einen Engel wütend sein kann, der bringt sich nicht um.“

„Willst du mich mit dem Gespräch von meinem Selbstmord abbringen? Schön ausgedacht, aber das funktioniert nicht.“

„Hatte ich auch gar nicht vor.“

„Ja, ja die sauren Trauben. Kaum erreichst du was nicht, hattest du es auch gar nicht vor.“

„Du willst dich ja gar nicht umbringen, du willst nur nicht so leben, wie du befürchtest, dass deine Zukunft ausschaut.“

„Du bist ein Klugscheißer und kein Engel, woher willst du das denn wissen, he?“

„Bevor ich dich angesprochen habe, hast du die Spritze auf der ich sitze eine halbe Stunde angestarrt und dabei die düstersten Gedanken deines Lebens gewälzt.“
„Mit Recht, denke ich. Durch den blöden Unfall kann ich vielleicht nicht mehr laufen, aber das ist dir ja egal. Du fliegst lieber.“

„Die Spritze ist leer, aber du bist gar nicht auf die Idee gekommen, sie zu verwenden."

„He?“

„Na das wäre eine sichere und schmerzarme Methode.“

„Was soll das denn, willst du mir jetzt sagen wie ich mich umbringen soll?“

„Nöh ich will dir zeigen, dass du es gar nicht willst.“

Felix drehte den Kopf auf die andere Seite. Das Gespräch nahm eine Wendung die ihm ganz und gar nicht behagte. War er diesem blöden Engel ausgeliefert? Engel gab es doch gar nicht.

Es blieb etliche Minuten ruhig. Hatte dieser Lichtwicht aufgegeben? Neugierig drehte er den Kopf mit geschlossenen Augen. Da grinste er ihn schon wieder an. Den Kopf zurück auf die andere Seite. Felix hielt das Schweigen noch gut fünf Minuten aus, bevor er wieder nachsah, ob der Engel noch da war. Er grinste immer noch.

„Also, was willst du von mir. Ich habe keinen Bedarf an irgendwelchen grinsenden Flügelgestalten.“

„Nichts, ich hatte nur Lust mich mit dir zu unterhalten. Du hast Zeit und das ist bei euch Menschen mittlerweile äußerst selten.“

„Ich hätte aber lieber keine Zeit und dafür wäre ich gesund und in der Arbeit oder beim Sport.“

„Nachdenken ist nicht so ganz das deine?“

„Nachdenken über den Unfall, über Selbstmord oder über was?“

„Na vielleicht rausfinden, was der Sinn des Lebens ist.“

„Ha, ha... hattest du nicht gesagt, dass du keine Philosophen magst?“

„Ja, die mag ich ja auch nicht, aber Philosophie ist klasse. Nur die großen Auseinandersetzungen der wichtigen Herrschaften, die sind gräßlich. Wenn die sich gegenseitig mit haarsträubenden Argumenten angreifen, bloß weil ihr Ego angekratzt ist.“

 „Ach Quatsch. Was hat das Leben schon noch für einen Sinn, wenn man keinen Sport mehr treiben kann und kein Sex. Ich habe keine Lust darüber nachzudenken“

„Na dann denk doch über Sport und Sex nach.“

„Du meinst so rein philosophisch und ohne jeden Praxisbezug?“

„Nein ich meine so richtig. Überleg dir doch, wie du wieder zu den aktiven Teilnehmern kommst.“

„Wahrscheinlich gar nicht, das ist doch nur Masochismus jetzt darüber nachzudenken, was ich alles nicht mehr kann.“

„Bist du dir da sicher?“

„‚Bist du dir da sicher?‘ Natürlich bin ich mir da sicher.“

Felix starrte an die Decke. Tränen traten ihm in die Augen. Das war genau das worüber er nicht nachdenken wollte. Wenn er an die Dinge dachte, die ihm Spaß gemacht hatten, begann  alles wieder von vorne. Es blieb ruhig. Vor seinem inneren Auge tauchten Skirennen, Ballturniere und Segeltörns auf. Erst aus seiner Erinnerung und ihm wurde ganz übel. Er hatte das Leben bisher richtig genossen und nun sollte er zu den Verlierern gehören? Doch irgendwie konnte er nichts dagegen tun. Dann schlichen sich immer mehr Bilder mit Rollstuhlfahrern ein. Zum Schluss sah er sich auf Krücken wieder Gehversuche machen „Manipulierst du meine Gedanken?“

„Ich manipuliere keine Gedanken. Ich habe nur ein wenig an dem Wall gerüttelt, den du gerade um die aufbaust.“

„Du meinst also, wenn ich an all das was war denke, dann könnte mir das irgendwie helfen?“

„Ja.“

„“Nein, das einzige was passiert, ist, dass mir auch noch die Luft wegbleibt. Ich weiß nicht wie ich da wieder rauskommen soll. Verstehst du das?“

„Ja, eigentlich schon, aber...“

„Aber, aber – du bist ein Sadist und kein Engel.“

„Nö“

Felix Antwort erstickte fast in seinen Tränen.

„Verdammt noch mal, ich bin gefahren. Das heißt ich bin schuld an dem verdammten Unfall. Bernd und die Frau aus dem anderen Wagen sind tot. Ich kann vielleicht nie wieder laufen. Aber ich soll daran denken, was mir früher Spaß gemacht hat oder wie ich wieder Spaß haben könnte?“

Nach etlichen Schluchzern konnte er wieder fortfahren.

„Ich kann keinen Spaß mehr haben. Das ist aus und das wollte ich vergessen, deshalb habe ich über Selbstmord nachgedacht.“

„Aber genau solche Schuldzuweisungen solltest du überwinden.“

„Du hast leicht reden. Ich habe zwei Menschen umgebracht! Und meine Verletzungen erinnern mich ständig daran.“

„Okay, du bist zu schnell gefahren und du hast zu langsam reagiert. Das kann doch jedem passieren.“

„Nein, kann es nicht. Spar  dir die Mühe, das hat der Psychologe auch schon versucht. Es hilft nicht.“

„Hmm, warum warst du denn zu schnell unterwegs?“

Dagi hatte mich angerufen, dass sie mir etwas erzählen wollte und sie hatte es so spannend gemacht.“

„Und was wollte sie dir erzählen?“

„Weiß ich nicht. Ich will niemanden sehen und Dagi schon gar nicht.“

„Das ist doch unlogisch. Weil du wissen willst, was sie dir zu sagen hat, fährst du so schnell, dass du einen Unfall baust und danach willst du sie gar nicht mehr sehen.“

„Soll sie etwa einen Krüppel mit Schuldkomplexen aufpäppeln?“, presste Felix unter weiteren Schluchzern hervor. „Das kann ich doch nicht von ihr verlangen.“  

„Hmm, was wäre wenn sie dich braucht?“

„Was meinst du damit? Fehlt Dagi etwas? Raus mit der Sprache!“

„Ich kann dir nichts sagen, aber sie wollte dir dringend etwas sagen.“

„Mach mich nicht noch mehr fertig. Was meinst du denn?“

„Na vielleicht solltest du sie fragen.

Lange starrte Felix wieder an die Decke und die Schmerzen in seiner Brust aus, wärend er an Dagi dachte. Was konnte ihr fehlen. Vor allen Dingen, was konnte er tun, um ihr zu helfen? Wie konnte er ihr helfen? Immer und immer wieder drehten sich die Fragen mit unbefriedigenden Antworten in seinem Kopf. Endlich schloss er die Augen wieder und wandte den Kopf zu dem Engel.

„Vielleicht sollte ich es versuchen.“

„Was meinen sie?“, antwortete Schwester Agnes.

„Oh, nichts. Ich hatte nur geträumt, dass ein Engel hier wäre.“

Felix lief an wie ein Feuermelder. Die Schwester dachte jetzt bestimmt, dass er verrückt sei.

„Na schön wär’s. Aber vielleicht sollten sie doch langsam wieder Kontakt mit der Welt anstatt mit Engeln aufnehmen. Soll ich ihnen nicht doch ein Telefon bringen?“

„Ja, tun sie das. Ich glaube ich habe mich jetzt lange genug versteckt.“

„Das ist ja eine prima Antwort. Ich komme gleich wieder und bringe den Apparat. Danach gebe ich ihnen dann die Spritze gegen die Schmerzen.“

Kaum hatte die Schwester den Raum verlassen, kam sie schon wieder zurück.

„Ach, darf ich vielleicht ihrer Freundin sagen, dass sie zu ihnen kann? Sie kommt jeden Abend vorbei und wartet, ob sie es sich nicht doch überlegen.“

„Ja, sagen sie ihr, ich warte auf sie.“

Felix schloss die Augen wieder und der Engel grinste ihn von seinem Platz auf der Nadelspitze der Spritze an.

„Danke. Engel scheinen wirklich Wunder zu vollbringen.“

„Bitte, gern geschehen und dann tschüs, ich muss wieder weg. Du wirst jetzt keine Zeit mehr für mich haben.“

„Tschüs, fast hätte ich mich an dich gewöhnt. Komm doch wieder vorbei, wenn dir langweilig ist. Ich liege sicher noch länger hier.“

„Na, vielleicht. Du kannst ja eine Nadel für mich freihalten.“

Auch wenn Felix die Augen noch so zukniff, der Engel war weg. Na vielleicht war es auch gut so. Er war ja jetzt bereit, wieder in die Welt zurückzukehren. Wie hatte das der kleine Kerl nur geschafft?

Voller Angst und doch ungeduldig wartete Felix auf die Ankunft von Dagi.

© Anna Banfhile, 2002




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