Heimkehr der Hexe


Wabernd stieg die Luft aus dem heißen Tal hoch und schwebte flirrend über dem Plateau. Langsam und rhythmisch bewegten sich die drei Gestalten in einem Tanz beschwörend um die kompliziert gelegten Muster nach der Melodie ihrer leisen Beschwörungen.

Drik wagte sich in seinem Versteck nicht zu bewegen Wie konnte er nur unbemerkt verschwinden?

Seine Großmutter hatte ihm schon oft von Bauern erzählt, denen es schrecklich erging, weil sie versucht hatten, die Hexer zu belauschen. Jeder kannte die alten Geschichten und nahm sich in acht. Warum musste das ausgerechnet ihm geschehen?

Er wollte diese Fremden gar nicht belauschen. Er hatte sich nur wie schon so oft an seinem Lieblingsplatz unter dem alten Haselnussbusch versteckt und davon geträumt sein Leben nicht als Hirte in den Bergen verbringen zu müssen.

Er stellte sich vor, wie er in die Welt hinaus zog, wo er die lustigsten und schönsten Abenteuer erlebte, dass er in die Schule gehen und alles, was ihn interessierte, lernen durfte bis er sogar alle geheimnisvollen Bücher lesen durfte, um alle kranken Tiere heilen zu können. Dabei war er eingeschlafen.

Plötzliche Stille ließ ihn den Atem anhalten. Die drei traten in den Kreis, erhoben langsam die Hände in einander verschlungen und verharrten bewegungslos. Ein helles Leuchten schien die Gestalten zu umhüllen, während ein leiser, sanfter Klang aus dem fernen Tal herauf drang, immer lauter wurde und sich zu einer zarten Melodie wandelte.

Die Fremden bewegten sich wieder im Rhythmus des Liedes, erst langsam dann mit dem steigendem Tempo der Melodie immer wilder in einem alten Beschwörungstanz bis die Melodie abrupt verstummte und die drei Tänzer ebenso reglos wie zu Beginn, von dem geheimnisvollen Licht umflutet, im Kreis standen.

Drik musste nießen. Mit einem Schlag war der Zauber vorbei.

„Was war das?“ drang eine tiefe Stimme zu ihm.

Die Hexer, denn nur um solche konnte es sich handeln, liefen den Hang herauf zu seinem Versteck. In wilder Panik schoss der Hirtenjunge unter dem Haselnussbusch hervor. Wie ein Wiesel rannte er in Richtung Wald. Im dichten Unterholz kannte er sich aus wie sonst niemand. Nur noch diesen flachen Hang hinab und die Lichtung mit seinen Schafen überqueren, bevor er im Wald verschwinden konnte.

Doch die drei Fremden waren schneller als er. Trotz seines Vorsprungs holten sie ihn kurz vor dem Waldrand ein. Mit eisernem Griff schloss sich eine große Hand um seine Schulter und hielt ihn fest.

Dieselbe dunkle Stimme, die ihn aus seinem Versteck gejagt hatte, sagte: „So, mein Bürschchen. Du wolltest wohl unsere Beschwörung belauschen?“

„Nei-nein Herr. I-Ich wollte euch nicht belauschen. Ich bin nur Drik, der Hirte. Ich wollte ich mir einen Bogen aus Nusszweigen schneiden und bin den Abhang hinauf geklettert. Dort bin ich wohl eingeschlafen. Plötzlich wart ihr auf dem Plateau, und ich wagte nicht mehr, mich zu bewegen“, vor Angst um Luft ringend, stieß Drik die Worte heraus.

Mit zitternder Stimme bat er: „Bitte glaubt mir. Ich wollte nichts Böses. Tut mir nichts.“ Dabei liefen die Tränen über seine Wangen und hinterließen zwei schmale Spuren auf dem erdverschmierten Gesicht.

„Bist du nicht der Sohn des Hirten Andosch?“, fragte eine helle, weiche Stimme. Erstaunt sah Drik hoch. Die beiden anderen Gestalten waren Frauen. Ein wenig Hoffnung stieg in ihm hoch. Vielleicht waren es doch keine Hexer, er wusste auf alle Fälle nichts davon, dass auch Frauen in dieser Zunft zugelassen waren.

„Oh, oh, ja“, antwortete er, hastig mit dem Kopf nickend.

Dann brach die Hoffnung aus ihm hervor: „Ihr seid ja Frauen. Meine Großmutter hat immer nur von Hexern erzählt. Seid ihr gar keine Hexer?“

Unsicher betrachtete er die Fremden in den weiten, schweren Mänteln.

„So, so deine Großmutter hat dir von Hexern erzählt“, ergriff der Mann wieder das Wort, „und nach deiner Angst zu urteilen, hatte sie nichts Gutes über uns zu berichten?“

Drik wusste nicht was er sagen sollte. Obwohl die Worte des Hexers seine Hoffnung zerstörte, flößten sie ihm trotzdem Mut ein. Bisher war ihm nichts geschehen. Er war weder in ein Tier noch in einen Stein verwandelt worden, noch sonst irgendwie gestraft worden. Hatte seine Großmutter doch nicht recht?

Da kamen ihm das erste Mal seit Jahren wieder Worte seiner Mutter in den Sinn.

-Sei freundlich zu Fremden und teile mit ihnen dein Brot.-

Dieser Gedanke irritierte ihn. Es machte ihn traurig, an seine Mutter zu denken, denn obwohl er sich kaum an sie erinnern konnte, fehlte sie ihm.

Ohne zu wissen warum, befolgte den Rat, an den er sich soeben erinnert hatte. Mit wieder etwas festerer Stimme fragte er: „Wollt ihr mit zu meiner Herde kommen? Ich habe Brot, Äpfel und Hollundersaft. Beim Essen kann euch erzählen was mir meine Großmutter über Hexer und Zauberer gesagt hat. Wenn ihr es wirklich wissen wollt.“

Das Lachen des Mannes klang warm und gar nicht gefährlich.

„Du gefällst mir. Dein Mut ist nicht so leicht unterzukriegen. Deine freundliche Einladung nehmen wir gerne an.“

Auf dem Weg zu seinem Hirtenlager am anderen Ende der Lichtung beobachtete er die Fremden genau. Es war nichts Beängstigendes an ihnen zu entdecken. Sie sprachen leise miteinander, von Lachen unterbrochen. Ob sie sich über ihn lustig machten?

Am Zelt angekommen bewirtete Drik seine Gäste mit allem was er hatte. Als Dank zauberten sie honigglänzende Süßigkeiten aus den Weiten der Mäntel hervor. Seit seine Mutter weg war, hatte er keine Süßigkeiten wie diese bekommen.

Was war heute los mit ihm? Schon zum zweiten Mal dachte er an seine Mutter. Doch die Trauer, die ihn früher dabei überfallen hatte, blieb heute aus.

Nach dem Essen erzählte er all die schaurigen Geschichten, die er von seiner Großmutter an den langen Winterabenden gehört hatte. Er berichtet wie unschuldige Bauern und Hirten von bösen Zauberern in Steine, Bäume oder Tiere verwandelt worden waren, oder wie Hexer in Gestalt von Werwölfen ganze Herden gerissen hatten.

Ihm waren bei den Schilderungen der Untaten immer die Haare zu Berge gestanden. Auch jetzt fühlte er sich nicht sehr wohl in seiner Haut, aber seine Gäste fanden seine Erzählungen gar nicht fürchterlich. Immer häufiger unterbrachen sie ihn lachend mit einer scherzhaften Bemerkung.

Als er geendet hatte, meinte die jüngere der Frauen: „Du armer Kerl mußt  ja zu Tode erschrocken sein, als wir dich entdeckten. Es stimmt, wir mögen es nicht, beobachtet zu werden, aber wir sind keine so schrecklichen Gestalten, wie du glaubst.“

Drik verstand nichts mehr. Die Fremden gaben zu, Hexer zu sein, doch sie schienen ganz und gar nicht böse zu sein. Nettere Leute hatte er selten getroffen. Stimmte etwa nicht, was ihm seine Großmutter erzählt hatte?

„Wann gehst du heute Abend nach Hause?“ unterbrach die Stimme des Zauberers seine Überlegungen.

„Wenn die Sonne den Gipfel dieses Berges berührt, beginne ich mit dem Abstieg, dann schaffe ich den Weg zu unserer Hütte noch rechtzeitig vor der Dunkelheit“, antwortete Drik, indem er auf einen hohen Bergkamm zeigte.

„Wir werden dich heute begleiten, deine Großmutter interessiert uns. Sie kann uns anscheinend nicht ausstehen und hat dir wohl oft Angst gemacht mit ihren Geschichten. Trotzdem hast du uns bewirtet. Dafür danken wir dir herzlich“.

„Oh, sie hätte euch nichts gegeben. Bevor sie einem Fremden etwas gibt, versteckt sie lieber das Brot.“ Erschrocken schlug sich Drik auf den Mund. So hatte er noch nie über seine Großmutter geredet. Es war die Wahrheit, doch bisher hatte er nicht gewagt, ihr Tun in Zweifel zu ziehen, oder gar Fremden gegenüber zu erwähnen.

Hastig begann er, seine Schafe zu versorgen, damit er nicht noch so etwas Ungehöriges von sich gab. Dabei überschlugen sich wirr die Gedanken in seinem Kopf. Behexten ihn die Fremden, dass er solche Dinge sagte?

Oft hatte er sich geschämt, wenn seine Großmutter Fremden, die sich in den Bergen verirrt hatten und um Unterkunft baten, Geld abverlangte oder sie weiter schickte. Auf seine Frage warum sie das tat, bekam er nur zur Antwort:“ Weil du auch nicht hungern willst, wegen der Bande, die sich hier herum treibt.“

Mehr hatte sie nie dazu gesagt.

Die drei Magier ruhten sich unterdessen im Schatten eines alten, knorrigen Baumes aus. Immer wieder warf er ihnen verstohlene Blicke zu, aber er schwieg . Hatten sie etwas damit zu tun, dass er die schroffe und geizige Art seiner Großmutter jetzt anzweifelte?

Bisher hatte er sein Leben hingenommen und war in seine Träume geflüchtet, wenn ihm alles zu traurig und sinnlos vorgekommen war. Er hatte nie gedacht, etwas daran zu ändern. Woher kam dieses seltsame Gefühl von Hoffnung plötzlich?

Auf dem Weg zur Hütte hüllte sich Drik der Hirtenjunge in Schweigen. Immer noch ließen ihm seine Gedanken keine Ruhe. Er hätte gerne jemanden um Rat gefragt, wagte aber nicht, die Hexer mit seinen Fragen zu belästigen.

Als sie das Hochplateau, auf dem die Hütte stand, schon fast erreicht hatten, ging der Hexer neben ihm. Mit freundlichem Ton sprach er ihn an: „Ich habe dich ein wenig beobachtet. Du stellst dich recht geschickt an, Junge, wirst du bald ins Tal kommen und ein Handwerk lernen?“

Traurig schüttelte Drik den Kopf: „Nein, mein Vater ist arm und kann kein Lehrgeld bezahlen. Ich werde Hirte wie er.“

Nun waren auch die beiden Frauen näher gekommen.

„Ist das auch dein Wunsch?“ fragte ihn die ältere Frau.

„Wer fragt schon nach meinen Wünschen. Ich kann ein wenig Lesen und Schreiben. Das macht mir großen Spaß, aber es ist nur etwas für die Reichen. Ich kann nicht weiter lernen, das zu teuer.“

Er beschleunigte seine Schritte, diese Fragen beantwortete er nicht gerne. Woher wussten die Hexer nur von seinem Kummer?

Kurz darauf erreichten sie ihr Ziel.

Drik lief in die Hütte, seiner Großmutter zu sagen, dass er Fremde mitgebracht hatte. Die Wartenden hörten bald das laute Gekeife, das er zur Antwort bekam. Noch immer vor sich hin schimpfend schlurfte eine gebeugte Gestalt heraus.

„Was habt ihr hier verloren, ihr stehlt mir nur die Zeit. Verschwindet wieder“, schrie sie die Fremden an.

„Ich muß für die Meinen sorgen, ich will keine Gäste, also packt euch!“

Die Zauberer blieben ruhig stehen, und die Alte wurde immer lauter.

„Hört ihr nicht ihr sollt hier verschwinden, es ist noch hell genug, dass ihr in das Tal kommt.“

Schließlich lockte der Lärm der Alten auch den Hirten Andosch von dem Pferch, den er für den Winter baute, zu den Fremden.

Bei der Gruppe angekommen fragte der melancholische Mann seine Mutter: „Was ist denn geschehen, warum regst du dich so auf, tun dir die Fremden etwas?“

In diesem Moment blickte er zu den Ankömmlingen. Erschrocken hielt er inne, dann flüsterte: „Eli, du...“.

Weiter kam er nicht, denn der Hexer unterbrach ihn: „Du erkennst sie also? Das ist recht. Wir sind hier um die Wahrheit zu finden.“

Er wandte sich mit unheimlich gebietender Stimme an die Alte: „Du wirst uns jetzt die Wahrheit berichten“

Wie mit unsichtbaren Mächten kämpfend stand sie gebeugt und trotzig vor ihnen und schwieg.

Der Zauberer streckte den Arm zu ihr aus und befahl: „Rede!“

„Ihr sollt die Wahrheit erfahren. Ich schäme mich nicht und bedaure nichts. Es war vor acht Jahren. Diese Frau war von Anfang an nichts für meinen Andosch“, dabei zeigte sie auf die ältere Frau. „Sie ist aus den Tälern im Süden und gehört nicht hier her. Alles machte sie anders als die Leute hier. Zudem wollte sie mir Andosch und das Kind nehmen und mit ihnen zu ihren Leuten in die fremde Stadt zu gehen. Das konnte ich nicht zulassen.

Andosch arbeitet bei den Holzfällern, denn zum Fortgehen fehlte ihnen das Geld.

Er bildete sich ein, in der Stadt könnte er Tiere heilen, weil er darin sehr geschickt ist. Sie unterstützte ihn bei diesen nutzlosen Träumereien und schwärmte ihm immer wieder vor, wie gut sie in der Stadt leben könnten. Mit ihrer süßen, betörenden Stimme setzte sie ihm dauernd solche Flausen in den Kopf.

Ha, aber ich wusste, dass er nicht glücklich geworden wäre. Er gehört in die Berge, genau wie ich. In einer Stadt, wo alle so eng aufeinander sitzen ohne Luft und Platz, kann er nicht leben.“

Hier unterbrach sie sich kurz, um vor der älteren der beiden Frauen auszuspeien.

„Ja, die Hexe meine ich. Als Andosch weg war, erwischte ich sie dabei, wie sie anfing, magische Muster zu legen und hexend ein Lämmchen zu heilen. Da war mir gleich vieles klar. Ich sagte ihr 'Ich dulde keine Hexe in meinem Haus!' Doch sie lachte mich nur aus.

Das sollte sie büßen. Ich überlegte, was ich tun konnte. Sie einfach fort zu jagen genügte nicht. Sie hätte meinen Sohn und das Kind mitgenommen. Sie musste endgültig und alleine verschwinden, damit sie nicht wiederkommen konnte.

Eines Abends sagte ich ihr, unsere Nachbarn hätten nach ihr geschickt, während sie im Wald war, Holz zu sammeln. Gutgläubig wie sie war, lief sie sofort los. Ich folgte ihr heimlich. Dann stieß ich sie vom Felsen in den Fluß, das konnte niemand überleben.

Als Andosch von den Holzfällern zurückkam, erzählte ich ihm, sie wäre mit einem Jäger davongelaufen, mit dem sie schon länger eine Liebelei gehabt habe und sie hätte sich über ihn und  seine Armut recht lustig gemacht.

Er glaubte mir, doch er suchte sie, um sie zur Rede zu stellen, bis er kein Geld mehr hatte dann musste er hier bleiben.“

Die alte gebeugte Gestalt stützte sich schwer auf ihren Stock. Mit zusammengekniffenen Lippen, trotzig und starr blieb sie vor den Zuhörern stehen.

Ohne zu warten, ob sie fertig war, schloss der Fremde an: „Ich fand Alys, so nannten wir Eli bis vor kurzem, damals halb tot am Ufer des Flusses, nahm sie mit nach Hause und pflegte sie gesund. Sie erinnerte sich lange an nichts außer ihre magischen Heilkunst. Dadurch entwickelte sie sich schnell zu einer geschickten und mittlerweile sehr gefragten Heilzauberin. In den letzten Jahren waren in unserem Tal mehrere Rinder- und Schafseuchen zu behandeln. Ohne Elis Hilfe hätten wir es nicht geschafft.

Sie lebte sich schnell in unserem Haus ein. Im Nu hatte ihre ruhige Art unsere Herzen erobert. Wir freuten uns sehr, dass sie bei uns blieb, auch wenn wir ihre Trauer über ihre verlorene Vergangenheit gern gelindert hätten.

In diesem Frühjahr brach endlich der Bann, der ihre Erinnerung verschüttet hatte. Zuerst wusste sie ihren Namen wieder, dann kam bruchstückhaft die Erinnerung an ihre Vergangenheit zu Tage. Eli konnte sich an einen lieben Mann und einen braven Sohn erinnern, aber sie konnte weder den genauen Ort, an dem sie gelebt hatte, noch die Person, die an ihrem Unglück schuld war, nennen.

Heute Nachmittag beschworen wir einen alten Wahrheitszauber, um endlich auch das herauszufinden. Dabei stießen wir auf Drik. Ich verfolgte ihn, um zu sehen, ob er uns schaden konnte. Als Eli ihn sah, erkannte sie ihn sofort. Während er die Tiere versorgte, erzählte sie uns, woran sie sich neu erinnerte. So entschlossen wir uns, nicht mehr zu warten und begleiteten ihn hierher.“

Niemand hatte dabei auf Drik geachtet. Am ganzen Körper schlotternd saß er vor sich hin murmelnd auf einem Baumstumpf: „Es ist nicht wahr, ich träume nur.“

Plötzlich sprang er auf, lief auf die ältere fremde Frau zu und flüsterte: „Bist du wirklich meine Mutter, du siehst so anders aus?“

Sie legte lächend den Arm um ihn: „Die Zeit verändert, auch du warst schwer wiederzuerkennen.“

Drik löste sich schwer. Doch dann lief er wütend zu seiner noch immer starr dastehenden Großmutter. Mit geballten Fäusten schrie sie an: „Dir habe ich alles geglaubt, doch du hast mich nur angelogen. Nichts von dem, was du sagst, ist wahr.

Du hast mir gesagt, meine Mutter hätte uns nicht mehr gemocht und sei mit einem fremden Mann davongelaufen, bloß damit wir dich mehr mögen als sie. Du böse, dumme, alte, eifersüchtige Frau du. Ich mag dich nicht mehr.“

Drik versagte die Stimme, denn die Tränen liefen ihm über das Gesicht und heftige Schluchzer schüttelten ihn.

Andosch ging zu seinem Sohn und nahm ihn tröstend in die Arme, wie ein kleines Kind, auch wenn der Junge nur noch einen Kopf kleiner war als er.

Zaghaft näherte sich Eli ihnen. Es fiel ihr schwer nach all den Jahren, in denen sie ihre Identität gesucht hatte, die richtigen Worte zu finden für die Menschen, die sie liebte.

„Wir können neu anfangen, wenn du dazu bereit bist. Ich habe dich nie verlassen, und seit ich dich wiedergesehen habe, weiß ich auch, warum mir kein anderer Mann gefallen hat.“

Sie wandte sich an ihren Sohn, der sich nur langsam wieder beruhigte.

„Manchmal ist es sehr schwer, mit der Bosheit anderer auszukommen. Dein Vertrauen in die Menschen deiner Familie wurde erst durch die Lügen deiner Großmutter und jetzt durch die Aufdeckung dieser Lügen zerstört.

Ich hoffe du willst es trotzdem noch einmal mit uns zu versuchen. Ich kann dir das Vertrauen nicht wiedergeben, aber ich habe ein Haus und die Erlaubnis, Menschen und Tiere zu heilen, und du könntest in der Stadt die Schule besuchen und einen Beruf lernen.“

Schüchtern legte er einen Arm um seine Mutter, den anderen um den Vater und nickte.

Der Hexer erhob nochmals die Stimme gegen die Alte, die immer noch unbeweglich vor ihnen stand.

„Du sollst zur Strafe hier allein leben müssen und über dein Unrecht nachdenken.“

Andosch ging schnell in die Hütte, um seine und Driks wenigen Habseligkeiten zu holen. Schnell hatte er auch seinen Teil der Herde um sich geschart. So machten sie sich noch in der Dämmerung an den Abstieg.

Am Waldrand bekam Drik Mitleid mit seiner Großmutter. Trotz allem war sie ihm die letzten Jahre wie eine Mutter gewesen. Er drehte sich noch einmal um, da sah er die alte Frau wilde Verfluchungen ausstoßend ihren Stock hinter ihnen schwingen.

Nein, zu dieser harten, unbeugsamen Alten wollte er nicht zurück. Schnell blickte er wieder nach vorne, in die sich plötzlich eröffnende Zukunft. Jetzt konnten seine Träume doch noch wahr werden.

Er schien zu den Leuten zu gehören, denen das Beobachten von Hexern Glück brachte, aber vielleicht war das immer so.


© Anna Banfhile, 2003

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